Mittwoch, 15. Juli 2020

Beim Lesen die Tiefe gehen - Vergangenes entdecken

Heute möchte ich an einem Beispiel zeigen, warum es bei mir sehr lange dauern kann, bis ich ein Buch durchgelesen habe. Es gibt nämlich Bücher, die mich so sehr berühren, dass ich immer wieder das Bedürfnis habe, beim Lesen zu pausieren und mich in das zu vertiefen, was ich gerade gelesen habe, es mit eigenen Erlebnissen oder Gefühlen zu verbinden.

Zuerst zeige ich die Stelle, um die es geht:


Ich lese am liebsten morgens nach dem Frühstück. Gern trinke ich dabei noch zwei bis drei Tassen Tee. 

Seniorenstudium statt Beruf. Eine sehr erfüllende Tätigkeit! Auch, wenn man damit kein Geld verdient. 

Das Lesen erweitert den Horizont, man taucht in fremde Welten ein, in die man sich körperlich nicht (mehr) begeben kann - in diesem Fall in die Kultur der Inuit bzw. in die kältesten Lebensräume, die es gibt. 

In dem Buch werden die Arktis und die Atmosphäre auf einem fremden Planeten miteinander verbunden, auf dem die Protagonistin Elaine Duval als einzige Überlebende gelandet ist, nachdem die Erde durch einen Kometen zerstört wurde.


Nun verrate ich endlich Autor und Titel des Buches:


Ich habe es in unserer Stadtbücherei ausgeliehen, wo es in der Abteilung der Neuanschaffungen auslag. 

Schon viele Male bin ich an einer Lesestelle hängen geblieben, habe mir etwas in mein Lesetagebuch zitiert oder habe Inhalte recherchiert.


Dieses Mal blieb ich hängen an "Großvaters persönliche Gegenstände" und ich begann zu überlegen. Habe ich auch noch etwas von meinem Großvater, was mich an ihn erinnert? Ich ging in Gedanken durchs Haus und holte zweierlei: Ein Buch von Walther Hinz mit dem Titel "Geborgenheit" (Der Klassiker der christlichen Geisteslehre von Prof. Dr. Walther Hinz). Ja, das passte zu meinem Großvater, der sich viel mit dem Woher und Wohin des Menschen befasste. Und mir hat er es geschenkt zu einer Zeit, als er seinen Bücherbestand reduzieren wollte (was ich inzwischen auch schon beginne - bin ich auch so alt wie er damals? Ich weiß nicht mehr, wann er damit begann.).


Das zweite Objekt, ebenfalls ein Buch, enthält eine Sammlung von Volksliedern aus seiner Lebenszeit. Das Buch sieht handgefertigt aus und sehr antik. Auf dem Etikett steht der Nachname meines Großvaters. Er schenkte es mir damals zusammen mit meiner ersten Gitarre. Ich weiß noch, dass ich mir im Alter von 12 Jahren ein Klavier wünschte, dieses aber nicht bekommen konnte, weil in der damaligen Wohnung zu wenig Platz war. Also bekam ich die Gitarre meines Onkels, der 1940 mit 17 Jahren im Krieg gefallen war. Mir fiel die Gitarre also 26 Jahre nach dessen Tod zu. Sie war nicht mein Trauminstrument, und doch lernte ich allerhand Klassisches darauf zu spielen (was ich heute noch einigermaßen kann) und sie diente mir im Beruf auch zum Begleiten von Liedern im Musikunterricht.

Etikett retuschiert

Da ist nun also etwas ganz Persönliches von meinem Großvater, der dieses Buch immer aufbewahrt hat. Denn eigentlich gehörte es ja seinem gefallenen Sohn. Wo mag es 26 Jahre lang gelegen haben? Was hat mein Großvater wohl gedacht, wer es mal bekommen sollte? Hatte er damals schon an potenzielle Enkelkinder gedacht? Ich kann ihn nicht mehr fragen, hüte dieses Buch aber - so wie er es tat - wie einen kostbaren Schatz.

Heute schlug ich es mal wieder auf. Für mein Gitarrenspiel ist es unbrauchbar, denn es ist kaum möglich, die akribisch notierten Volkslieder abzulesen. Außerdem spiele ich gern andere Melodien. 

Trotzdem studiere ich es hin und wieder und staune über die damalige Geduld und Konzentration, die (vermutlich) mein Onkel aufgebracht hat.

Das Buch scheint speziell für diesen Zweck erschaffen worden zu sein. Es enthält im Wechsel Seiten aus dünnerem Papier ohne Linien und dickere Seiten mit vorgedruckten Notenlinien auf Vorder- und Rückseite. Bei diesem Lied stoppte ich, denn ich las im Text den Namen Anne Marie. So heißt auch meine Cousine (aus dem anderen Familienzweig allerdings). Ich habe ihren Namen im Text rot gekennzeichnet:


Es handelt sich hier um das Lied "Über die Heide" von Hermann Löns, der ja als Heidedichter bekannt wurde (über den ich natürlich erst wieder recherchieren musste - Seniorenstudium eben ...). 

Über die Heide

Über die Heide geht mein Gedenken
Annemarie, nach dir, nach dir allein
Über die Heide möchte ich wandern
Annemarie, bei dir zu sein
Über die Heide flogen die Schwalben
Annemarie, sie grüßten dich von mir
Über die Heide riefen die Raben
Annemarie, Antwort von dir
Über die Heide pfeifen die Winde
Annemarie, und alles ist voll Schnee
Über die Heide ging einst mein Lieben
Annemarie, ade, ade.

Diesen Text schrieb Hermann Löns 1911 mit 45 Jahren, drei Jahre vor seinem Tod in Frankreich im ersten Weltkrieg. Es handelt sich um ein Liebeslied.

Ich versuchte mich an den Noten. Wie mochte dieses Lied klingen? Die Melodie wurde mir im Internet vorgespielt: Über die Heide


Ganz spontan möchte ich jetzt einen Brief an meinen Onkel in der Vergangenheit schreiben, bevor ich mich weiter zu seinem Notenbuch äußere:

Lieber Onkel S.,

weißt Du eigentlich, auf welche Weise Du mit mir verbunden bist? Du konntest es nicht ahnen, dass Deine Schwester eines Tages eine Tochter bekommen würde, der Dein Vater dieses kostbare, handgeschriebene Buch und Deine Gitarre vermachen würde. Ich kann Dich nicht mehr fragen, wie alt Du warst, als Du diese vielen Lieder gesammelt hast. Heute klicken wir uns einfach durchs WeltWeite GeWebe. Nur ein paar Klicks, ein paar Sekunden - und schwupps  haben wir, wonach wir suchten. Und vergessen es wieder. Davon konntest Du nicht einmal träumen. Viele kostbaren Werke Deiner Lebenszeit und früherer Zeiten sind einfach verschwunden. Andere werden geehrt, manche mehr, manche weniger. Manche landen in Museen, Dein vergleichsweise geringes Werk (warum müssen wir Menschen den Wert der Dinge eigentlich immer hierarchisieren?) wird bei mir bis an mein Lebensende einen guten Platz haben. Wem werde ich es vererben, wenn ich gehe? 
Ich staune über Dein sorgfältiges Notieren, über die Kontinuität, die aus Deiner Liedersammlung spricht. Hast Du die Lieder von einem Lehrer bekommen? Als Du das Gitarrenspiel erlernt hast? Die Schrift sieht nicht immer gleich aus. Hast Du die Lieder vielleicht gar nicht aufgeschrieben? Hat sie Dein Lehrer in Dein Notenbuch geschrieben, damit Du sie zuhause üben kannst?
Bei allem technischen Fortschritt, den wir heute haben - DAS kann ich alles nicht mehr ergründen. Obwohl es auch dafür schon Ideen gibt. Ein norwegischer Schriftsteller hat sich dazu viele Gedanken gemacht und eine Zukunftsidee in seiner Erzählung "Der Zeitscanner" dargestellt. Um zu verstehen, woran ich denke, sollte man diese Leseprobe lesen, die ich (wieder mal) einfach verlinken kann: Der Zeitscanner.
Ob ich Freude daran hätte, Dein Leben in einem solchen Zeitscanner nachzuforschen, in allen Details anzusehen?  Ich vermute, eher nicht, denn wie Du im Krieg aus dem Leben geschieden bist, das möchte ich mir als Nacherleben gern ersparen.
Aber Dein Liederbuch, das werde ich noch viele Male zur Hand nehmen.

Einen Gruß aus der Zukunft,
unbekannterweise (oder kennst Du mich gar doch?),
Deine Nichte U.

Ich blättere weiter. Ich entdecke mehr Lebendiges. Was ist denn da passiert? Hat die Tintenfeder des Schreibenden gestreikt? Musste er sie mehrmals wütend aufs Papier stupsen, um die Tinte wieder zum Fließen zu bringen? Womit hat er überhaupt geschrieben?

Ich fühle über das Papier. Wäre es so, wie ich zuerst vermutete, dann müssten im Papier Vertiefungen zu spüren sein. Außerdem solche, die unsichtbar sind. Nein, dies ist nicht der Fall.
Können es Fliegenexkremente sein?
Ja, das ist viel wahrscheinlicher, denn die schwarzen Punkte sind erhaben auf dem Papier. So wie die Punkte der Braille-Schrift (Blindenschrift).


Ich fantasiere:
Mein Onkel ließ einmal das Buch über längere Zeit offen und unberührt auf dem Notenständer stehen. Eine Fliege setzte sich darauf und blieb lange dort sitzen. Und dann ... na ja, man sieht ja, was ich meine. Auch Spinnen tun so etwas.

Ich blättere weiter ... das letzte Lied steht auf Seite 58.  

Ach herrjemine!

Es berührt mich sehr.
Denn ich kann mir vorstellen, dass mein Onkel zu der Zeit tief im nationalsozialistischen Sumpf aktiv war. Ob ich den Text erwähne?

Ich tu's ... ganz neutral ... er gehört eben zur Geschichte meines Onkels, der 1940 für "sein Vaterland" starb. Als "junger Soldat", deren "Zeit war" ... ja, sie WAR!

Ein junges Volk steht auf

1. Ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit!
Reißt die Fahnen höher, Kameraden!
Wir fühlen nahen unsere Zeit,
Die Zeit der jungen Soldaten.

Vor uns marschieren mit sturmzerfetzten Fahnen
Die toten Helden der jungen Nation,
Und über uns die Heldenahnen.
Deutschland, Vaterland, wir kommen schon!

2. Wir sind nicht Bürger, Bauer, Arbeitsmann,
Haut die Schranken doch zusammen,
Kameraden, uns weht nur eine Fahne voran,
Die Fahne der jungen Soldaten
Vor uns marschieren mit sturmzerfetzten Fahnen
Die toten Helden der jungen Nation,
Und über uns die Heldenahnen.
Deutschland, Vaterland, wir kommen schon!

3. Und welcher Feind auch kommt mit Macht und List,
Seid nur ewig treu, ihr Kameraden!
Der Herrgott, der im Himmel ist,
Liebt die Treue und die jungen Soldaten.

 Vor uns marschieren mit sturmzerfetzten Fahnen
Die toten Helden der jungen Nation,
Und über uns die Heldenahnen.
Deutschland, Vaterland, wir kommen schon!



An dieser Stelle endet die Liedersammlung. Und damit wohl auch das Leben meines Onkels -  welch schicksalsträchtiger Schnitt in diesem Buch! Und mit ihm starb auch die Fröhlichkeit seiner Mutter. Meiner Großmutter, die danach nur noch 12 Jahre lebte und dann an Krebs verstarb. Der Kummer hatte ihr Herz gebrochen und sich tief in ihre Knochen gefressen. Ich durfte sie nicht mehr kennen lernen. Nein, ich verzichte lieber auf den Zeitscanner ... nun reicht's.

Was für eine Symbolik bekommt damit die Seite 62, die erste leere Seite:



Dran geglaubt und dafür gestorben ... ein Massendrama! 

Zum Schluss noch das Inhaltsverzeichnis mit meiner Hervorhebung des Liedes "Über die Heide" - auch Löns wird nationalsozialistisches (Rasse-)Denken nachgesagt. Es findet sich überall in der Vergangenheit, in den Generationen vor uns. Jeder wird es finden, wenn er/sie nur genau genug hinschaut. Eine leise Mahnung zu Achtsamkeit ...



Ich werde mich nun wohl doch noch weiter vertiefen in das Buch. Zeitgeschichtliches Dokument einer unguten Geisteshaltung. Volkslied oder völkisches Lied? Es  ging auf jeden Fall böse aus und animiert mich nicht zum Musizieren.

Spuren des Gebrauchs - vom Notenständer vielleicht?
Ausdruck gelebten Lebens ...



Nun könnte ich noch mehr in die Tiefe gehen und die Machart des Buches ergründen. Wie wurde das Einbandpapier erzeugt? Wie wurde das Buch gebunden?



Die Vergangenheit möchte man manchmal einfach nur ruhen lassen. Zu Beginn des Blogposts wusste ich noch nichts um die dunklen Entdeckungen. Somit habe ich einen tiefen, sehr viel tieferen Einblick in die Familiengeschichte erlangt. Einen, der mir durch das Entdeckte viel Erzähltes zusätzlich erhellen konnte. Wie werde ich meine Gänsehaut wieder los ...

Wo ist meine Tasse Tee??? 
Wo das Buch???
Dort geht's weiter ...

2 Kommentare:

  1. Ich besitze jeweils von meinem Vater und Großvater ein Gedichtbüchlein und von meinem Urgroßvater ein Tagebuch. Es ist schon merkwürdig und berührend in diesen alten Gedanken zu stöbern, fast noch mehr als in alten Fotos, wahrscheinlich weil sie das innere Bild zeigen und nicht nur die äußere Persona.

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  2. Huhu Zucker(welten)tänzerin (schreibe gerade einen Text zu meiner frühen Süßigkeitensucht - ha, passt!),

    nee, was ich eigentlich sagen wollte:

    Sinnkronigsynchron lese ich derzeit ein Buch von Anne Weber: Ahnen.

    Das hat mit meiner Großmutter zu tun - insofern, als sie aus demselben Ort kommt, in dem der Urgroßvater der Autorin wirkte. Und da mir diese Großmutter nach wie vor viele Rätsel aufgibt, sauge ich das Buch und den damaligen Zeitgeist mit viel Doppelmoraligem auf wie ein Schwamm.

    Ja, solcherlei beginnt einen plötzlich zu interessieren, wenn man ins Alter kommt. Na gut ... so hat man halt eine neue Tanzfläche zu erobern. Nur Neues macht das Leben lebenswert. Selbst, wenn es Altes ist.

    LG
    Ulrike

    Morgen wieder zum Frühstückskaffee ... wie gesagt ...

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